Der Motorroller in der Schweiz
Es ist kein Wunder, dass
der Motorroller gerade in der Schweiz einen gewaltigen Aufschwung erlebt hat.
Bietet schon das Motorrad die Möglichkeit, sich mit bescheidenen Mitteln zu
motorisieren, so entspricht der Roller in vermehrtem Masse den Bedürfnissen des
Schweizers. Einerseits ist dieser sportlich eingestellt, mit angeborener Freude
am Wandern und Reisen, andererseits stellt er hohe Ansprüche in Bezug auf persönliche
Gepflegtheit, an die Aesthetik seiner Umwelt und an die technische
Vollkommenheit der Einrichtungen, mit denen er tagtäglich in Berührung kommt.
Der Anstoss kam
bekanntlich 1946 von Italien her mit den ersten Vespa-Modellen. Man besah sich
das neue Vehikel kritisch, aber nicht überheblich. Die Mehrzahl der
Motorradfahrer gab ihm keine grosse Zukunft, aber das breite Publikum fand es
ansprechend, und als einige Parforcefahrten über unsere Alpenpässe anstandslos
absolviert wurden, erfasste man sofort, dass hier erstmals ein Motorrad für den
Alltagsverkehr und für jedes Wetter auf den Markt gekommen war, wobei sich auch
gleich sehr viele Interessentinnen aus dem grossen Kreis der sportlichen jungen
Damen zur Anschaffung entschlossen.
Vor dreissig Jahren war
der Roller, d.h. karossierte Motorrad ohne Knieschluss, bei uns ebenso wie in
anderen Ländern ein Fiasko gewesen, weil sich zweifelhafte Erfinder Ihre
Experimente vom kaufenden Publikum hatten zahlen lassen. Der glückliche Umstand,
der dem Roller diesmal zu seinem Siegeszug verhalf, war der, dass jetzt einige Könner
eine technische fertige Konstruktion in einer Konjunkturperiode zu einem Preis
anboten, der für die grosse Masse tragbar war, dass diese Konstruktion auf den
ersten Wurf formmässig befriedigte und dass sie leistungsmässig den
Verkehrsbedürfnissen entsprach: Niedrige Steuerklasse, eine Beschleunigung, die
den Fluss des Stadtverkehrs nicht hemmte, Tragkraft für zwei Personen,
Unterbringung des Handgepäcks, Maximalgeschwindigkeit 70 km/h, niedriger
Verbrauch, Zuverlässigkeit und grosse Lebensdauer. Haben doch einige der ersten
Baumuster weit über 100 000 km hinter sich gebracht. Hinzu kam von Anfang an
ein gut ausgebauter Service mit reichhaltigen Ersatzteillagern. Betrug der
Anteil der Roller an den in die Schweiz importierten Motorrädern 1947 nur 6
Prozent, so sah das 1952 mit 60 Prozent ganz gewaltig anders aus. Die
Entwicklung ist am besten aus den Zahlen der in Verkehr gesetzten fabrikneuen
Motorräder und Roller ersichtlich:
Jahr | Motorräder | davon Roller ca. | Anteil in Prozent |
1946 | 1565 | 50 | 3.1 |
1947 | 6713 | 500 | 6.9 |
1948 | 9743 | 700 | 6.7 |
1949 | 8907 | 1000 | 10.1 |
1950 | 16803 | 5800 | 25.6 |
1951 | 27210 | 12800 | 31.9 |
1952 | 34640 | 21200 | 46.2 |
Nicht erfasst sind hierbei die Fahrrad-Hilfsmotoren, welche in einer gesonderten Statistik rangieren. Insgesamt sind in der Schweiz heute (Heft "Das Motorrad", 5. Jahrgang, Heft 16/1953) rund 73 000 Motorräder aller Klassen (ohne Himos) und rund 40 000 Roller im Verkehr, und die Entwicklung ist noch längst nicht abgeschlossen.
Was die Rentabilität anbetrifft, so variieren die Betriebskosten zwischen 8 und 10 Rappen pro Kilometer. Das muss man für 2 Personen bei Kurzstreckenverkehr auch ungefähr für die Strassenbahn rechnen, wobei man aber etwa die doppelte Zeit braucht.
Die fahrtechnischen
Ansprüche des grossen Rollerpublikums in der Schweiz sind im Allgemeinen nicht
hoch. Weil der durchschnittliche Rollerfahrer nur nach dem Auge kauft, machen
Vespa und Lambretta das grosse Geschäft. Deswegen werden diese Fahrzeuge auch
nur ohne Zubehör offeriert: Soziussitz, Reserverad, Gepäckträger, Fussmatte,
Frontscheibe und eine Menge Extras separat. Und mit diesen Extras, die nur das
Auge erfreuen, aber keinen praktischen Wert haben, wie Chromleisten,
Stossstangen, Zierblechen, Nummernschild-Einfassungen, Radkappen etc. wird ein
Riesengeschäft gemacht. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass es sich
langsam herumspricht, dass neu aufgekommene Rollermarken mehr an Leistung und
ein bedeutendes Plus an Strassenlage bieten. Der weitaus grösste Teil der
Rollerfahrer will auf einem elegant aussehenden Vehikel gemütlich sein tägliches
Fahrpensum erledigen, rollt am Wochenende auf gepflegten Betonstrassen in die
heimische Bergwelt und macht einmal im Jahr eine geniesserische Ferienreise in
eines der benachbarten Länder, vorzugsweise Italien oder Frankreich. Wenn auch
eine erhebliche Anzahl dieser Vespen und Lambretten recht flott gefahren wird,
wenn man auch in den Wintermonaten noch eine erhebliche Anzahl davon in den Städten
herumhuschen sieht, so darf man die Tatsache doch nicht verkennen, dass die überwiegende
Mehrheit der schweizerischen Rollerfahrer ihr Fahrzeug von Oktober bis März/April
still legt, und dass diese Mehrheit keinen Argumenten der fahrtechnischen
mehrbietenden Konkurrenz zugänglich ist. Nch Marken aufgeteilt sieht die
Statistik wie folgt aus:
In der Schweiz bis Ende 1952 zugelassene Motorräder und Roller
Herstellerland | Motorräder | Roller insg. | Roller nach Marken |
Schweiz | 13584 | 1173 | AMI 100ccm - 1120 Stk. Standard-Pirol - 11 Stk. Swiss Boy - 25 Stk. |
Belgien | 733 | - | - |
Deutschland | 17720 | 904 | Goggo - 213 Stk. (Davon 66 mit 150ccm) Hoffmann Vespa - 8 Stk. Maicomobil - 99 Stk. NSU-Lambretta - 512 Stk. Sitta 50 Stk. |
Frankreich | 1870 | 49 | Bernardet 48 Stk. |
Grossbritannien | 21041 | 42 | Corgi - 42 Stk. |
Italien | 2586 | 36898 | Lambretta - 17735 Stk. Vespa - 17149 Stk. MV-Augusta - 598 Stk. Guzzi-Galletto - 309 Stk. Iso - 566 Stk. Macchi - 94 Stk. Moretti - 36 Stk. Parilla - 139 Stk. Rumi - 194 Stk. Vittoria - 46 Stk. |
Oesterreich | 6063 | 127 | Puch - 125 Stk. |
Schweden | 142 | - | - |
Tschechoslowakei | 7783 | - | - |
USA | 1035 | 24 | Salsbury - 24 Stk. |
Wie man sieht, stellen
nur etwa 5 Prozent der Rollerfahrer in der Schweiz höhere Ansprüche. Das sind
einmal diejenigen, welche einige Zeit eine der beiden geführten Marken mit
offenen Sinnen gefahren hatten und eines Tages merkten, wo die Grenze liegt,
jenseits der gewisse Marken mehr bieten. Und dann sind da diejenigen
Motorradfahrer, welche die Nase (beziehungsweise die Hosen) voll genug haben und
zum AMI, Iso, Parilla oder Rumi überwechseln, alles Fahrzeuge, welche
Motorradeigenschaften mit dem Schmutzschutz der Roller verbinden. Bei dieser
Fahrzeugkategorie ist auch die Bevorzugung des Motors mit höherem Inhalt als
125 ccm unverkennbar. Marken, welche z.B. Goggo das gleiche Fahrgestell
wahlweise mit 125 ccm und 150 ccm Motor liefern, verkauften rund ein Drittel mit
der stärkeren Maschine, obgleich die 25 ccm Differenz die steuerlich und
versicherungstechnisch viel höhere Belastung der 250er-Klasse mit sich bringen.
Dass in einem solch
vereinsfreudigen Land, wie es die Schweiz ist, die Hälfte aller Motorradfahrer
in zahllosen Clubs organisiert sind, ist nicht verwunderlich. Für die
Rollerfahrer kommt natürlich kein ausgesprochen sportlicher Club in Frage,
sondern in erster Linie der auf touristischem Gebiet führende Touring Club (TCS),
der bei minimalen Beiträgen (sFr. 9.00 pro Jahr) ein Maximum an Vorteilen
bietet. Deshalb sind heute bereits15 000 Rollerfahrer beim TCS organisiert.
Diese Zahl verpflichtet den TCS zu besonderer Betreuung dieser neuen Kategorie
von Verkehrsteilnehmern, und deshalb wurde vor Jahresfrist, im Februar 1952,
eine Motorroller-Kommission gegründet. Es handelt sich dabei lediglich um eine
beratende Instanz des Zentralsitzes des TCS, die den Rollerfahrern mit ihrem Rat
behilflich sein will. Der grösste Teil der Roller-Käufer besteht ja aus
Neulingen, zudem mehrheitlich aus technisch vollkommen unbelasteten Personen.
Ihnen musste man mit Ratschlägen helfen. Man musste sie verkehrstechnisch
erziehen, sie für touristische Fragen interessieren und sie mit den wichtigsten
technischen Problemen vertraut machen. Zu diesem Zweck erscheint das
Verbandsorgan, der "Touring", ab Januar dieses Jahres in zwei
getrennten Ausgaben, einer für Automobilisten und einer für Motorrad- und
Roller-Fahrer.
Die vielseitige Zusammensetzung der Motorroller-Kommission aus Fachleuten, Rollerfahrern, Juristen und Behördenvertretern bürgt für positive Arbeitsleistung.
Berücksichtigt man ferner, dass in der Schweiz als Touristikland par excellence die Strassen grösstenteils in erstklassigem Zustand sind, und das die Verkehrsteilnehmer, soweit sie motorisiert sind, zwar schnell, aber diszipliniert fahren, dann versteht man, dass in diesem Land der Roller ein vielbenutztes und seinen Besitzer befriedigendes Verkehrsmittel ist. Da man damit rechnet, dass in zwei bis drei Jahren ein Rollerbestand von 100 000 Stück erreicht sein wird, sind die Absatzmöglichkeiten für Roller bauende Firmen weiterhin gut. Bedingung ist allerdings, wenn man bei dem Schweizer Publikum Erfolg haben will, eine formal hervorragende Gestaltung italienischer Schule, verbunden mit erstklassiger Werkmannsarbeit und einem gut ausgebauten Ersatzteildienst.
R. H. Schroeder
aus " das Motorrad ", 5. Jahrgang, 15. August 1953, Nummer 16